Post-privacy, Spackeria, Dystropien und wichtige Gedanken

Die ra­sche Ent­wick­lung des In­ter­nets in all sei­nen Fa­cet­ten hat die ge­sell­schaft­li­che und po­li­ti­sche Ent­wick­lung längst über­holt. Lang­sam rückt nun die brei­te Masse nach, ent­deck­te zu­nächst die Vor­zü­ge des Net­zes - doch nun fol­gen auch Kri­tik und skep­ti­sche Ge­dan­ken. Ge­ra­de das Thema Da­ten­schutz und Pri­vat­sphä­re ma­ni­fes­tiert sich hier be­son­ders hei­kel - Daten las­sen sich leicht aus­tau­schen, ein Ver­lust der Pri­vat­sphä­re ist erst mit gro­ßer Ver­zö­ge­rung spür­bar (ty­pi­scher­wei­se dann, wenn es zu spät ist und man ne­ga­ti­ve Aus­wir­kun­gen zu füh­len be­kommt). Wie mit die­sen Wer­ten in Zu­kunft in einer ver­netz­ten Ge­sell­schaft um­zu­ge­hen sei, strei­ten sich die Geis­ter.
Als im Fe­bru­ar ein Lan­des­da­ten­schut­be­auf­trag­ter forsch gegen einen ein­zel­nen Web­sei­ten-Be­trei­ber wegen der Ver­wen­dung von Goog­le Ana­ly­tics vor­ging, rauf­ten sich ei­ni­ge em­pör­te Twit­te­rer zu­sam­men und be­gan­nen (zu­nächst in einem ge­mein­sa­men Edi­tor, dann in einem Wiki und einem Blog), sich zu­sam­men­zu­rau­fen. Den Name "da­ten­schutz­kri­ti­sche Spa­cke­ria" gaben sie sich in An­leh­nung an eine Dis­kus­si­on auf dem 27C3, in wel­cher eine Grup­pe Pri­va­cy-Geg­ner als "Post-Pri­va­cy-Spackos" be­zeich­net wor­den waren.
Im Mo­ment macht die Grup­pe (die sich ei­gent­lich als Grup­pe erst noch for­mie­ren und fin­den muß, mo­men­tan scheint es mir eher ein klei­ner Hau­fen Leute mit ganz grob ähn­li­chen Ideen zu sein) in der Pres­se von sich reden - so hat heute das In­ter­view von Julia Schramm mit Spie­gel On­line einen re­gel­rech­ten Shits­torm auf Twit­ter los­ge­tre­ten.

Hier ein paar Ge­dan­ken von mir zu dem Thema:

Pri­vat­sphä­re scheint ein Ur­be­dürf­nis der Men­schen zu sein - er läßt sich sogar in der abend­län­di­schen Rechts­spre­chung bis in die An­fän­ge der schrif­ti­chen Auf­zeich­nun­gen zu­rück­ver­fol­gen. Was man hier eben­falls be­ob­ach­ten kann, ist ein Wan­del des Be­griffs im Laufe der Zeit auf­grund tech­ni­scher Neue­run­gen. So wurde bei­spiels­wei­se mit dem Auf­kom­men von Fo­to­ap­pa­ra­ten in der brei­ten Masse in Ame­ri­ka das Recht auf ein Recht am Bild aus­ge­wei­tet - es durf­te nicht mehr jeder nach Be­lie­ben ab­ge­lich­tet und das Bild an­schlie­ßend in der Zei­tung pu­bli­ziert wer­den. Auch in Deutsch­land waren es tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen, wel­che das deut­sche Da­ten­schutz­recht ge­formt haben: Das Recht auf in­for­ma­tio­nel­le Selbst­be­stim­mung ver­dan­ken wir dem Volks­zäh­lungs­ur­teil von 1983; ohne ent­spre­chen­de Com­pu­ter­un­ter­stüt­zung wäre die Aus­wer­tung der Volks­zäh­lung, bei der in sämt­li­chen Haus­hal­ten Deutsch­lands Fra­ge­bö­gen er­ho­ben wur­den, nicht mög­lich ge­we­sen.

Seit 1983 hat sich die Welt dra­ma­tisch ge­wan­delt, und es ist eine be­rech­tig­te Frage, ob die Werte und Maß­stä­be von da­mals noch 1:1 Gül­tig­keit haben oder zu­min­dest zu Tei­len auf den Prüf­stand ge­hö­ren. Ganz deut­lich war das an der Street­view-De­bat­te zu sehen: Viele Leute fühl­ten sich damit (min­des­tens) un­wohl; oft war von einer "Ver­let­zung der Pri­vat­sphä­re" zu hören - doch kei­nes der Da­ten­schutz­ge­set­ze griff hier; das Pro­blem: Die Masse der Bil­der und das au­to­ma­ti­sche Zu­sam­men­füh­ren war eine neue Qua­li­tät, die es so vor­her ein­fach nicht ge­ge­ben hatte.

Im Falle des Steins des An­sto­ßes stell­te der Be­klag­te die Frage, warum aus­ge­rech­net er mit Goog­le Ana­ly­tics plötz­lich kei­nen Zu­satz­ver­dienst für den Un­ter­halt sei­ner Home­page mehr haben dürfe, wenn tau­sen­de an­de­re es wei­ter­hin tun. Ich emp­fand es tat­säch­lich als etwas un­ge­recht, daß hier ein ein­zel­ner her­aus­ge­zo­gen und ab­ge­straft wurde. Wei­ter brach­te es aber auch bei mir die fol­gen­de Frage auf:

Gibt es Vor­ge­hens­wei­sen, wel­che für den In­ter­net­nut­zer längst gän­gi­ger und ak­zep­tier­ter Usus sind (und nur die Rechts­spre­chung dies noch nicht er­kannt hat), oder nimmt sich hier ein Kon­zern schlicht Rech­te her­aus, die er nicht hat (und die Nut­zer neh­men es nur hin, weil sie davon nichts mer­ken)?
Das In­ter­net ist für viele eine "Terra In­co­gni­ta", der "Wilde Wes­ten des 21ten Jahr­hun­derts". Sind Goog­le, Face­book & Co. die Pio­nie­re, wel­che die­ses Land urbar ma­chen - oder sind sie die Out­laws, wel­che das in "zi­vi­li­sier­ten Ge­bie­ten" gel­ten­de Ge­setz mi­ßach­ten und ein­fach das Faust­recht wal­ten las­sen?

Es ist wich­tig, vor­sich­tig ab­zu­wä­gen, wel­che Werte er­hal­tens­wert sind und wo Re­ge­lun­gen dem tech­ni­schen Fort­schritt an­ge­gli­chen wer­den müs­sen. Das soll­te weder Hals über Kopf noch in einem An­fall von Tech­nik­gläu­big­keit und -en­thu­si­as­mus ge­sche­hen - ich möch­te weder mein Leben auf den Ser­vern von Face­book noch mich in einer In­kar­na­ti­on des Ro­mans 1984 wie­der­fin­den.

Ich hoffe, daß Dis­kus­sio­nen wie z.B. bei der Spa­cke­ria hier gute Ar­gu­men­te und An­sich­ten her­vor­brin­gen - aus die­sem Grund habe ich mich am An­fang auch bei der Ma­te­ri­al­samm­lung im Pad der Spa­cke­ria mit be­tei­ligt. Mo­men­tan ist es mir dort aber zu laut, und das Spie­gel-In­ter­view hat dem gan­zen die vor­läu­fi­ge Po­le­mik-Kro­ne auf­ge­setzt. Aus­sa­gen wie "Keine Macht den Da­ten­schüt­zern" oder "Pri­vat­sphä­re ist sowas von Eigh­ties" sind ab­so­lut fehl am Platz. Pau­scha­le Aus­sa­gen wie "Wir leben in einer ver­netz­ten Welt, wo Pri­vat­sphä­re durch das In­ter­net nicht mehr mög­lich ist" und "Der Auf­wand, pri­va­te Daten zu kon­trol­lie­ren und zu­rück­zu­hal­ten, ist mitt­ler­wei­le un­ver­hält­nis­mä­ßig hoch. Im End­ef­fekt kön­nen wir uns nicht da­ge­gen weh­ren" sind kein An­stoß zu einer kon­struk­ti­ven Dis­kus­si­on - viel­mehr töten sie eine De­bat­te ab, da sie ver­su­chen, die Um­stän­de als voll­ende­te Tat­sa­chen dar­zu­stel­len.

Nur weil etwas schwie­rig oder an­stren­gend ist, ist das nicht au­to­ma­tisch gleich­be­deu­tend damit, daß es es nicht Wert ist, sich darum zu be­mü­hen; ein der Auf­wand ist un­ver­hält­nis­mä­ßig hoch lasse ich nicht gel­ten. Ich hoffe des­halb auf tat­säch­li­che Ar­gu­men­te - und krea­ti­ve Dis­kus­sio­nen. In Kon­text der Dis­kus­si­on um das In­ter­view kam mir die­ser Tweet unter:

"Im In­ter­net muss Pri­vat­sphä­re neu de­fi­niert wer­den. Statt Da­ten­schutz braucht man hier Recht auf An­ony­mi­tät und fal­sche Iden­ti­tät."

Der be­inhal­tet mei­ner Mei­nung nach mehr Dis­kus­si­ons­grund­la­ge und sinn­vol­les Ma­te­ri­al als das ge­sam­te In­ter­view.