Gute Daten, böse Daten

Viele Gro­ßen der Welt gei­ßeln die Ver­öf­fent­li­chung der Wi­ki­leaks-"Cab­le­ga­te"-Do­ku­men­te als ver­ant­wor­tungs­los und ge­fähr­lich. Man­che gin­gen sogar so weit, sie als "9/11 der Di­plo­ma­tie" zu be­zeich­nen. Eine Nach­rich­ten­spre­che­rin der öf­fent­lich-recht­li­chen frag­te rhe­to­risch nach einem Be­richt, wieso Wi­ki­leaks stän­dig auf den Ame­ri­ka­nern her­um­ha­cken würde - das Steh­len von Daten aus Län­dern wie dem Iran oder China sei ihnen wohl zu ge­fähr­lich.
Da scheint es wie der pure Hohn, wenn die nächs­te Nach­rich­ten­mel­dung die Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ist, daß der An­kauf und die Ver­wen­dung der "Steu­er­sün­der-CD" rech­tens war. Die Do­ku­men­te bei Wi­ki­leaks und die Steu­er­sün­der-CD haben eines ge­mein­sam: Für beide wur­den ir­gend­wo Ge­set­ze über­tre­ten, um an die Daten zu ge­lan­gen. Nur of­fen­bar wird hier streng zwi­schen "guten Daten" und "bösen Daten" un­ter­schie­den...

Seit die­sem ers­ten Kom­men­tar der Nach­rich­ten­spre­che­rin haben sich die Jour­na­lis­ten of­fen­bar wei­ter über die Funk­ti­ons­wei­se von Wi­ki­leaks in­for­miert (wer das wei­ter tun möch­te, dem kann ich die Sen­dung des Cha­os­ra­dio Nr. 149 über Wi­ki­leaks oder die Wi­ki­leaks FAQ bei "The Fu­ture of the In­ter­net" emp­feh­len), denn es ist mit­nich­ten so, daß Wi­ki­leaks-Ak­ti­vis­ten frem­de Rech­ner "ha­cken", um an Daten zu kom­men. Wi­ki­leaks sieht sich als neu­tra­le Whist­leb­lo­wer-Platt­form: Jeder kann Wi­ki­leaks Daten mit der Bitte um Ver­öf­fent­li­chung zur Ver­fü­gung stel­len. Die Wi­ki­leaks-Ak­ti­vis­ten prü­fen dar­auf­hin die Au­then­ti­zi­tät der In­for­ma­tio­nen, und wenn sie die­sen "sa­ni­ty checks" be­ste­hen, wer­den sie ver­öf­fent­licht. Dabei nimmt Wi­ki­leaks kei­ner­lei mo­ra­li­sche Be­wer­tung der Daten vor - das obers­te Ziel ist ein un­ge­fil­ter­ter Blick auf die Welt.

Die­ser An­satz klingt zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen sehr ra­di­kal; so­weit ich mich er­in­ne­re, wurde die ra­di­ka­le Ver­öf­fent­li­chung bei den Af­gha­nis­tan-Do­ku­men­ten ein­ge­schränkt, da bei ei­ni­gen Tex­ten un­mit­tel­ba­re Ge­fahr für das Leben ei­ni­ger Leute be­stan­den habe (ich bitte um Kor­rek­tur, wenn ich hier falsch liege). Aber ge­ra­de der Ver­gleich mit den Steu­er­sün­der-Da­ten zeigt, daß eine all­ge­mein­gül­ti­ge und neu­tra­le Be­wer­tung von sol­chen Do­ku­men­ten fak­tisch nicht mög­lich ist.

Aus Sicht von Ame­ri­ka liegt Wi­ki­leaks wohl ganz klar auf der "vir­tu­el­len Achse des Bösen". Zu­erst zog der DNS-Re­gis­trar Ever­yDNS den Stöp­sel und lösch­te den Do­mä­nen­ein­trag wikileaks.​org. Auf­grund eines DDoS-An­griffs auf die schwe­di­schen Wi­ki­leaks-Ser­ver (des­sen Ver­ur­sa­cher in­zwi­schen ge­fasst ist) zogen die Wi­ki­leaks-Da­ten vor­über­ge­hend in die Ama­zon-Cloud; doch Ama­zon lösch­te wohl auf po­li­ti­schen Druck hin die Daten. Auch Pay­pal hat in­zwi­schen das Wi­ki­leaks-Spen­den­kon­to ge­sperrt. So­wohl Pay­pal als auch Ama­zon be­strei­ten na­tür­lich, auf po­li­ti­schen Druck hin ge­han­delt zu haben; je­doch klingt die Be­grün­dung über den Ver­stoß gegen die Ge­schäfts­be­din­gun­gen in mei­nen Ohren reich­lich dünn.

Es scheint schon fast zum Ri­tu­al zu wer­den: Als die Sperr­lis­ten von Web­sei­ten mit an­geb­lich kin­der­por­no­gra­phi­schem In­halt vor einem Jahr ver­öf­fent­lich wur­den, ver­schwand die Deut­sche Wi­ki­leaks-Do­main ohne Vor­war­nung, und der In­ha­ber der Do­main sah sich einer Haus­durch­su­chung aus­ge­setzt, die aus tech­ni­scher Sicht völ­lig sinn­los war (Mut­ma­ßun­gen über die ein­schüch­tern­de Wir­kung lagen da nicht fern).

Auf der an­de­ren Seite wurde die Ver­öf­fent­li­chung des Irak-Vi­de­os von vie­len Eu­ro­päi­schen Me­di­en für wich­tig ge­hal­ten. Sel­bi­ges galt für die Ver­öf­fent­li­chung des unter Ver­schluß ge­hal­te­nen Toll­collect-Ver­trags­werks.

Die Rolle und Hal­tung von Wi­ki­leaks ist in der Tat schwie­rig - was von den einen für gut ge­hal­ten wird, mag für an­de­re voll­kom­men ver­werf­lich klin­gen. Aber genau diese Schwie­rig­keit der Be­wer­tung ist der Grund für die Her­an­ge­hens­wei­se von Wi­ki­leaks. Ob Wi­ki­leaks damit als Da­mo­kles­schwert für krum­me Ma­chen­schaf­ten und über­mo­ra­li­sche In­stanz funk­tio­niert oder mehr Scha­den als Nut­zen an­rich­tet, ist eine sehr schwie­ri­ge Frage.

Je­den­falls stün­de es der Pres­se gut zu Ge­sicht, wenn sie nicht un­kri­tisch die Pres­se­mit­tei­lun­gen der Po­li­tik wie­der­ho­len würde und Wi­ki­leaks in ihrer Be­richt­er­stat­tung nicht ein­mal ge­ra­de­zu zum Hel­den hos­ti­li­sie­ren, das an­de­re mal zum Welt­ver­rä­ter ver­dam­men würde. Eine dif­fe­ren­zier­te­re Be­trach­tungs­wei­se tut hier not.